Manfred Kyber

29
Jul
2008

Der Pilger mit dem schleppenden Hinterbein

Ein kleiner Käfer krabbelte mühsam auf steinigem Weg. Es waren viele Hindernisse auf seiner Straße. Strohhalme und sonstige schwer zu bewältigende Gegenstände. Es war recht anstrengend. Fliegen konnte er nicht. Es war ein Krabbelkäfer. Zudem war sein linkes Hinterbein verkümmert - schon von Geburt an. Er schleppte es nach. Es war ein trauriger Fall. Aber er pilgerte tapfer weiter. Käfer gehen und wandern nicht. Sie pilgern. Das ist ein großer Unterschied.


"Gehen Sie doch aus dem Wege!" schrie eine Hummel, namens Summser, den Pilger an und brummte böse. "Strolcht so was auf der Straße herum und stört achtbare Damen, die sich auf den Blumenmarkt begeben!"

"Entschuldigen Sie", sagte der Pilger mit dem schleppenden Hinterbein, "ich muss pilgern, ich bin ein Krüppel." Er wies mit dem Fühlhorn auf das verkümmerte Hinterbein.

"So, so", sagte Frau Summser mitleidig, "dann ist es ja etwas anderes. Das habe ich nicht gesehen. Ich war so eilig. Wenn man heutzutage nicht sehr zeitig an die Blumen kommt, ist alles vergriffen. Die Konkurrenz ist sehr groß. Aber warum müssen Sie den pilgern? Wäre es mit Ihrem Bein nicht besser, Sie würden zu Hause bleiben? Sie müssten heiraten. Dann haben Sie wenigstens Ihre regelmäßigen Mahlzeiten."

"Nein, ich muß pilgern", sagte der Pilger mit dem schleppenden Hinterbein. "Ein alter Käfer, den ich wegen meines Leidens konsultierte, sagte mir das. Er sprach von der Religion des heiligen Skarabäus und sagte, ich müsse das Rad des Lebens suchen. Das ist ein sehr alter Glaube und ein großer Trost für arme Krabbelkäfer."

"Und was hat man davon?" fragte Frau Summser. "Es ist doch gewiß viel vernünftiger, rechtzeitig auf den Markt zu kommen."

Der kleine Käfer zog das verkrüppelte Bein mit einer zuckenden Bewegung an den Körper, so daß es nicht mehr zu sehen war. "Man kann ein Rosenkäfer werden", sagte er geheimnisvoll.

"Ist das ein lohnender Beruf?" fragte Frau Summser.

Sie war eine überaus praktische Hausfrau. Ihre Honigtöpfe waren unübertroffen und bekannt im ganzen Umkreis eines Insektenflugs.

"Man glänzt dann wie flüssiges Gold, und man kann fliegen. Man ruht in den Rosen und atmet ihren Duft."

Frau Summser wurde hierdurch an Ihren Markt erinnert. "Jetzt muß ich mich wirklich beeilen", sagte sie, "die Konkurrenz ist eine zu große heutzutage. Jedenfalls wünsche ich Ihnen alles Gute."

Der Pilger mit dem schleppenden Hinterbein pilgerte weiter. Über den Weg kam ein Wagen gefahren.

Das ist das Rad des Lebens, dachte der Pilger mit dem schleppenden Hinterbein und hastete darauf zu.

Das Rad ging über ihn hinweg.

Auf dem Weg blieb nichts als eine formlose Masse.

Zur selben Stunde kroch im sonnigen Süden ein kleiner Rosenkäfer aus dem Ei. Ganz zuerst betastete er mit dem Fühlhorn sein linkes Hinterbein. Er wußte selbst nicht, warum er das tat. Das linke Hinterbein war gesund und glänzte wie flüssiges Gold. Es war fast noch schöner und glänzender als die anderen Beine.

Die Rosen dufteten.

Das Rad des Lebens ging weiter.


Manfred Kyber 1880 - 1933
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