20
Sep
2006

Ein Blatt vom Himmel

Hoch oben in der dünnen, klaren Luft flog ein Engel
mit einer Blume aus dem Himmelsgarten,
und während er einen Kuss auf die Blume drückte,
löste sich ein winzig kleines Blättchen ab und fiel auf die nasse Erde mitten im Walde;
da fasste es sogleich Wurzeln
und begann mitten zwischen den anderen Kräutern zu sprossen.
"Das ist ja ein merkwürdiger Steckling"
sagten sie, und keiner wollte sich zu ihm bekennen,
weder die Distel noch die Brennnessel.
"Es wird wohl eine Art Gartengewächs sein"
sagten sie und lachten spöttisch.
Und sie machten sich über das vermeintliche Gartengewächs lustig;
aber es wuchs und wuchs
wie keines von den anderen und trieb Zweige weit umher in langen Ranken.
"Wo willst Du hin?" sagten die hohen Disteln,
die Stacheln an jedem Blatte hatten.
"Du gehst zu weit. Deine Zweige haben keine Stütze und keinen Halt mehr.
Wir können
doch nicht stehen und Dich tragen!"
Der Winter kam und Schnee legte sich über die Pflanze;
aber durch sie bekam die Schneedecke einen Glanz,
als würde er von unten her mit Sonnenlicht durchströmt.
Im Frühjahr stand dort ein blühendes Gewächs, herrlich wie kein anderes im Walde.
Da kam ein Professor der Botanik daher, der ein Zeugnis bei sich hatte,
dass er war, was er war. Er besah sich die Pflanze, biss sogar in ihre Blätter,
aber sie stand nicht in seiner Pflanzenkunde; es war ihm nicht möglich zu entdecken,
zu welcher Gattung sie gehörte.
"Das ist eine Spielart!" sagte er.
"Ich kenne sie nicht, sie ist nicht in das System aufgenommen!"
"Nicht in das System aufgenommen" sagten die Disteln und Nesseln.
Die großen Bäume ringsum
hörten, was gesagt wurde,
und auch sie sahen, dass es
kein Baum von ihrer Art war; aber sie sagten nichts,
weder etwas Gutes noch etwas Schlechtes, das ist immer das Sicherste,
wenn man dumm ist.
Da kam ein armes, unschuldiges Mädchen durch den Wald;
ihr Herz war rein und ihr Verstand groß durch ihren Glauben
; ihr ganzes Erbteil in dieser Welt
bestand in einer alten Bibel, aber aus deren Blättern sprach Gottes Stimme zu ihr:
Wollen die Menschen Dir übel, so denke an die Geschichte von Joseph:
"Sie dachten Übles in ihren Herzen, aber Gott wendete es zum Besten"
Leidest Du Unrecht, wirst Du verkannt und verhöhnt,
so denke an den Reinsten und Besten,
den sie verspotteten und an das Kreuz nagelten, wo er noch betete:
"Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!"
Sie blieb vor der wunderbaren Pflanze stehen,
deren grüne Blätter so süß und erquickend dufteten
und deren Blüten im hellen Sonnenschein wie ein wahres Farbenfeuerwerk leuchteten.
Und aus jeder sang und klang es,
als verberge sie aller Melodien tiefen Born, der in Jahrtausenden nicht erschöpft wird.
Mit frommer Andacht schaute sie auf all die Gottesherrlichkeit;
sie bog einen der Zweige nieder, um die Blüte recht anschauen zu können
und ihren Duft einzuatmen.
Und ihr wurde licht und wohl ums Herz.
Gern hätte sie eine Blüte mitgenommen, aber sie hatte nicht das Herz,
sie zu brechen, sie würde nur zu schnell bei ihr welken,
und so nahm sie nur ein
einziges von den grünen Blättern, trug es heim,
legte es in ihre Bibel und dort lag es frisch, immer frisch und unverwelklich.
Zwischen den Blättern der Bibel lag es verborgen,
und mit der Bibel wurde es unter des jungen Mädchens Haupt gebettet,
als sie einige Wochen später im Sarge lag,
des Todes heiligen Ernst auf dem frommen Antlitz,
als ob es sich in ihrer irdischen Hülle noch abpräge,
dass sie nun vor ihrem Gotte stand.
Aber draußen im Walde blühte die wunderbare Pflanze,
die bald wie ein Baum anzusehen war.
Und alle Zugvögel kamen und neigten sich vor ihr,
besonders die Schwalben und Störche.
"Das ist ein ausländisches Gehabe!" sagten die Distel und die Klette,
"so würden wir uns doch hier niemals aufführen!"
Und die schwarzen Waldschnecken spuckten auf den Baum.
Da kam der Schweinehirt, er raufte Disteln und Ranken aus,
um sie zu Asche zu verbrennen;
den ganzen wunderbaren Baum, mit allen Wurzeln riss er aus
und stopfte ihn mit in das Bund.
"Er muss auch Nutzen bringen!" sagte er, und dann war es getan.
Aber nach Jahr und Tag litt des Landes König an der tiefsten Schwermut;
er war fleißig und arbeitssam, aber es half nichts.
Es wurden ihm tiefsinnige Schriften vorgelesen
und auch die allerleichtesten, aber auch das half nichts.
Da kam Botschaft von einem der weisesten Männer der Welt.
Man hatte sich an ihn gewendet und er ließ sie wissen,
daß sich ein sicheres Mittel finde, den Leidenden zu kräftigen und zu heilen.
"In des Königs eigenem Reiche wächst im Walde
eine Pflanze himmlischen Ursprungs,
so und so sieht sie aus, man kann sich gar nicht irren!"
und dann folgte eine Zeichnung der Pflanze, sie war leicht zu erkennen.
"Sie grünt Sommer und Winter;
man nehme jeden Abend ein frisches Blatt davon und lege es auf des Königs Stirn,
da wird es seine Gedanken licht machen,
und ein schöner Traum wird ihn für den kommenden Tag stärken!"
Das war nun deutlich genug, und alle Doktoren und der Professor der Botanik
gingen in den Wald hinaus.
Ja, aber wo war die Pflanze?
"Ich habe sie wohl mit in mein Bund gepackt!" sagte der Schweinehirt.
"Sie ist schon längst zu Asche geworden, aber ich verstand es nicht besser!"
"Er verstand es nicht besser!" sagten alle. "Unwissenheit!
Unwissenheit wie groß bist Du."
Und diese Worte konnte sich der Schweinehirt zu Herzen nehmen,
denn ihm und keinem anderen galten sie.
Nicht ein Blatt war zu finden, das einzige lag in dem Sarge der Toten,
und das wusste niemand.
Der König selbst kam in seiner Schwermut in den Wald zu dem Orte hinaus.
"Hier hat der Baum gestanden" sagte er, "das ist ein heiliger Ort"
Und die Erde wurde mit einem goldenen Gitter eingefasst
und eine Schildwache stand Tag und Nacht davor.
Der Professor der Botanik schrieb eine Abhandlung über die himmlische Pflanze,
und dafür wurde er vergoldet. Das war ihm ein großes Vergnügen.
Und die Vergoldung kleidete ihn und seine Familie,
und das ist das Erfreulichste an der ganzen Geschichte,
denn die Pflanze war fort und der König war schwermütig und betrübt
"aber das war er auch schon vorher!" sagte die Schildwache.

Hanz Christian Andersen

Bäume

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Wer mit einem Baum sprechen kann,
braucht keinen Psychiater,
nur meinen die meisten Menschen das Gegenteil.

Phil Bosmans

Freiheit

Freiheit ist, was du tust mit dem was dir angetan wird.

Jean-Paul Sartre

19
Sep
2006

Geben

Ihr gebt nur wenig, wenn ihr von eurem Besitz gebt.
Erst wenn ihr von euch selber gebt, gebt ihr wahrhaft.

Denn was ist euer Besitz anderes als etwas, das ihr bewahrt und
bewacht aus Angst, daß ihr es morgen brauchen könntet?
Und morgen, was wird das Morgen dem übervorsichtigen Hund bringen,
der Knochen im spurlosen Sand vergräbt,
wenn er den Pilgern zur heiligen Stadt folgt?

Und was ist die Angst vor der Not anderes als Not?
Ist nicht Angst vor Durst, wenn der Brunnen voll ist,
der Durst, der unlöschbar ist?

Es gibt jene, die von dem Vielen, das sie haben, wenig geben
- und sie geben um der Anerkennung willen,
und ihr verborgener Wunsch verdirbt ihre Gaben.

Und es gibt jene, die wenig haben und alles geben.
Das sind die, die an das Leben und die Fülle des Lebens glauben,
und ihr Beutel ist nie leer.

Es gibt jene, die mit Freude geben, und die Freude ist ihr Lohn.

Es gibt jene, die mit Schmerzen geben, und der Schmerz ist ihr Taufe.

Und es gibt jene, die geben und keinen Schmerz beim Geben kennen;
weder suchen sie Freude dabei, noch geben sie um der Tugend willen;
Sie geben, wie im Tal dort drüben die Myrte ihren Duft verströmt.
Durch ihr Hände spricht das Gute, und aus ihren Augen lächelt es auf die Erde.

Es ist gut zu geben, wenn man gebeten wird,
aber besser ist es, wenn man ungebeten gibt, aus Verständnis;

Und für den Freigebigen ist die Suche nach einem,
der empfangen soll, eine größere Freude als das Geben.

Und gibt es etwas, das ihr zurückhalten werdet?

Alles, was ihr habt, wird eines Tages gegeben werden;
daher gebt jetzt, daß die Zeit des Gebens eure ist
und nicht die eurer Erben.

Ihr sagt oft:
"Ich würde geben, aber nur dem, der es verdient:"
Die Bäume in eurem Obstgarten reden nicht so,
und auch nicht die Herden auf euren Weiden.

Sie geben, damit sie leben dürfen,
denn zurückhalten heißt zugrunde gehen.
Sicher ist der, der würdig ist,
seine Tage und Nächte zu erhalten,
auch alles andere von euch würdig.

Und der, der verdient hat, vom Meer des Lebens zu trinken,
verdient auch, seinen Becher aus eurem Bach zu füllen.

Und welcher Verdienst wäre größer
als der Mut und das Vertrauen, ja auch die Nächstenliebe,
die im Empfangen liegt?

Und wer seid ihr,
daß die Menschen sich die Brust zerreißen
und ihren Stolz entschleiern sollten,
damit ihr ihren Wert nackt und ihren Stolz entblößt seht?
Seht erst zu, daß ihr selber verdient,
ein Gebender und ein Werkzeug des Gebens zu sein.

Denn in Wahrheit ist es das Leben, das dem Leben gibt ,
während ihr, die ihr euch als Gebende fühlt,
nichts anderes sei als Zeugen.

Und ihr, die ihr empfangt -
und ihr seid alle Empfangende -,
bürdet euch nicht die Last der Dankbarkeit auf,
damit ihr nicht euch und dem Gebenden ein Joch auferlegt.

Steigt lieber zusammen mit dem Gebenden auf
seinen Gaben empor wie auf Flügeln;

Denn seid ihr euch eurer Schuld zu sehr bewußt,
heißt das, die Freigebigkeit desjenigen zu bezweifeln,
der die großherzige Erde zur Mutter und Gott zum Vater hat.

Khalil Gibran

...

"Dies ist das Schwerste,
was Euch das Leichteste scheint:
Mit den Augen zu sehen,
was vor den Augen Euch liegt."

J.W. Geothe

18
Sep
2006

...

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Vom Schenken

Schenke groß oder klein,
aber immer gediegen.
Wenn die Bedachten die Gabe wiegen,
sei dein Gewissen rein.

Schenke herzlich und frei.
Schenke dabei was in dir wohnt
An Meinung, Geschmack und Humor,
so dass die eigene Freude zuvor
dich reichlich belohnt.

Schenke mit Geist ohne List.
Sei eingedenk, dass dein Geschenk –
Du selber bist.


Joachim Ringelnatz

Desiderata

Geh freundlich und gelassen inmitten von Lärm und Hast, und denke daran, welcher Friede in der Stille zu finden ist. . Versuche mit allen Menschen auszukommen, so weit wie immer möglich doch ohne dich selbst aufzugeben.
Rede von deiner Wahrheit ruhig und deutlich, und hör andern zu, selbst wenn sie dir langweilig und unwissend erscheinen; auch sie haben ihre Geschichte.
Geh lauten und angriffslustigen Menschen aus dem Weg, denn sie sind eine Plage für den Geist.
Wenn du dich mit andern vergleichst, kannst Du stolz oder verbittert werden, denn es wird immer Menschen geben, die mehr oder weniger können als du.
Freue dich über das, was du erreicht hast, wie auch über deine Pläne. Behalte das Interesse an deiner Arbeit, wie auch immer die Stolpersteine sein mögen, denn dein Tun und Handeln ist ein wahrer Besitz unter all den Dingen, deren Werte sich im Laufe der Zeit ändern.
Sei vorsichtig bei allen deinen Geschäften, denn die Welt ist voller List. Aber lass dich davon nicht blenden, es gibt auch reichlich Tugend und viele Menschen, die nach großen Idealen trachten, überall ist das Leben voll vom stillen Heldentum.
Sei du selbst.
Täusche keine Zuneigung vor.
Spotte nicht über die Liebe, denn auch im Angesicht von Ödnis und Ernüchterung, lebt sie ewig fort wie das Gras.
Beuge dich freundlich dem Rat der Jahre und gib die Dinge der Jugend in Würde auf.
Erhalte dir die Schärfe deines Verstandes, denn sie vermag dich vor plötzlichem Unglück zu bewahren. Aber verfalle nicht ins Grübeln. Viele Ängste entstehen aus Müdigkeit und Einsamkeit.
Neben einem gesunden Maß an Disziplin, sei freundlich mit dir selbst. Du bist ein Kind des Universums, nichts anderes als der Baum vor der Tür oder die Sterne am Himmel. Du hast ein Recht darauf, hier zu sein. Und ob es dir nun klar ist oder nicht: Das Universum entfaltet sich zweifellos so, wie es sollte.
Sei friedlich mit Dir selbst und was auch immer deine Arbeit und dein Streben sein mag in dem lauten Durcheinander des Lebens. Halte Frieden mit deiner Seele. Trotz aller Täuschung, Mühsal und aller zerbrochenen Träume ist es immer noch eine wunderbare Welt.
Sei bedacht.
Strebe danach, glücklich zu sein.
Max Ehrmann
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