15
Aug
2012

Die Liebende

125

Das ist mein Fenster. Eben
bin ich so sanft erwacht.
Ich dachte, ich würde schweben.
Bis wohin reicht mein Leben,
und wo beginnt die Nacht?

Ich könnte meinen, alles
wäre noch Ich ringsum;
durchsichtig wie eines Kristalles
Tiefe, verdunkelt, stumm.

Ich könnte auch noch die Sterne
fassen in mir, so groß
scheint mir mein Herz; so gerne
ließ es ihn wieder los

den ich vielleicht zu lieben,
vielleicht zu halten begann.
Fremd, wie niebeschrieben
sieht mich mein Schicksal an.

Was bin ich unter diese
Unendlichkeit gelegt,
duftend wie eine Wiese,
hin und her bewegt,

rufend zugleich und bange,
daß einer den Ruf vernimmt,
und zum Untergange
in einem Andern bestimmt.

Rainer Maria Rilke

11
Jun
2012

Der Liebende

Nun liegt dein Freund wach in der milden Nacht,
Noch warm von dir, noch voll von deinem Duft,
Von deinem Blick und Haar und Kuß - o Mitternacht,
O Mond und Stern und blaue Nebelluft!
In dich, Geliebte, steigt mein Traum
Tief wie in Meer, Gebirg und Kluft hinein,
Verspritzt in Brandung und verweht zu Schaum,
Ist Sonne, Wurzel, Tier,
Nur um bei dir,
Um nah bei dir zu sein.
Saturn kreist fern und Mond, ich seh sie nicht,
Seh nur in Blumenblässe dein Gesicht,
Und lache still und weine trunken,
Nicht Glück, nicht Leid ist mehr,
Nur du, nur ich und du, versunken
Ins tiefe All, ins tiefe Meer,
Darein sind wir verloren,
Drin sterben wir und werden neugeboren.

Hermann Hesse

31
Mai
2012

Von der Freundschaft

Euer Freund ist die Antwort auf eure Nöte
Er ist das Feld, das ihr mit Liebe besät
und mit Dankbarkeit erntet.
Und er ist euer Tisch und euer Herd
Denn ihr kommt zu ihm mit eurem Hunger,
und ihr sucht euren Frieden bei ihm.
Wenn euer Freund frei heraus spricht,
fürchtet ihr weder das "Nein" in euren Gedanken,
noch haltet ihr mit dem "Ja" zurück.
Und wenn er schweigt,
hört euer Herz nicht auf,
dem seinen zu lauschen;
Denn in der Freundschaft werden
alle Gedanken, alle Wünsche, alle Erwartungen
ohne Worte geboren und geteilt,
mit Freude, die keinen Beifall braucht.
Wenn ihr von eurem Freund weggeht, trauert ihr nicht:
Denn was ihr am meisten an ihm liebt,
ist vielleicht in seiner Abwesenheit klarer,
wie der Berg dem Bergsteiger von der Ebene aus klarer erscheint.
Und die Freundschaft soll kein anderen Zweck haben,
als den Geist zu vertiefen.
Und laßt euer Bestes für euren Freund sein.
Wenn er die Ebbe eurer Gezeiten kennen muß,
laßt ihn auch das Hochwasser kennen.
Denn was ist ein Freund, wenn ihr ihn nur aufsucht,
um die Stunden todzuschlagen?
Sucht ihn auf, um die Stunden mit ihm zu erleben.
Denn er ist da, eure Bedürfnisse zu befriedigen
nicht aber eure Leere auszufüllen.
Und in der Süße des Freundschaft laßt Lachen sein
und geteilte Freude.
Denn im Tau kleiner Dinge
findet das Herz seinen Morgen und wird erfrischt.

Khalil Gibran

17
Mai
2012

Und auf einmal steht es neben dir

Und auf einmal merkst du äußerlich:
Wieviel Kummer zu dir kam,
Wieviel Freundschaft leise von dir wich,
Alles Lachen von dir nahm.
Fragst verwundert in die Tage.
Doch die Tage hallen leer.
Dann verkümmert Deine Klage …
Du fragst niemanden mehr.
Lernst es endlich, dich zu fügen,
Von den Sorgen gezähmt.
Willst dich selber nicht belügen
Und erstickst, was dich grämt.
Sinnlos, arm erscheint das Leben dir,
Längst zu lang ausgedehnt. – – –
Und auf einmal – –: Steht es neben dir,
An dich angelehnt – –
Was?
Das, was du so lang ersehnt.

Joachim Ringelnatz

9
Mai
2012

Es ist ja Frühling. Und der Garten glänzt

Es ist ja Frühling. Und der Garten glänzt
vor lauter Licht.
Die Zweige zittern zwar
in tiefer Luft, die Stille selber spricht,
und unser Garten ist wie ein Altar.

Der Abend atmet wie ein Angesicht,
und seine Lieblingswinde liegen dicht
wie deine Hände mir im Haar:
ich bin bekränzt.

Du aber siehst es nicht.
Und da sind alle Feste nichtmehr wahr.

Rainer Maria Rilke

16
Apr
2012

O mio babbino caro

O mio babbino caro,
mi piace è bello, bello;
vo'andare in Porta Rossa
a comperar l'anello!
Sì, sì, ci voglio andare!
e se l'amassi indarno,
andrei sul Ponte Vecchio,
ma per buttarmi in Arno!
Mi struggo e mi tormento!
O Dio, vorrei morir!
Babbo, pietà, pietà!

Giovacchino Forzano
Giacomo Puccini

10
Apr
2012

Versäumnis

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Viel zu wenig kenne ich die Bäume,
Die vor meinem Fenster stehn und rauschen,
Viel zu selten baun sich meine Träume
Nester, um die Winde zu belauschen,
Und des Himmels Silberwolkenspiele
Gehn vorüber, ohne mich zu trösten -
Ganz vergessen habe ich so viele
Wunder, die mir einst das Herz erlösten

Ina Seidel

29
Mrz
2012

Gebet der hl. Theresa von Avila

(1515 - 1582)

Oh Herr, du weißt besser als ich, dass ich von Tag zu Tag älter und
eines Tages alt sein werde. Bewahre mich vor der Einbildung, bei
jeder Gelegenheit und zu jedem Thema etwas sagen zu müssen.
Erlöse mich von der großen Leidenschaft, die Angelegenheiten
anderer ordnen zu wollen. Lehre mich, nachdenklich (aber nicht
grüblerisch), hilfreich (aber nicht diktatorisch) zu sein. Bei meiner
ungeheuren Ansammlung von Weisheit erscheint es mir ja schade,
sie nicht weiterzugeben - aber du verstehst, o Herr, daß ich mir ein
paar Freunde erhalten möchte.
Bewahre mich vor der Aufzählung endloser Einzelheiten und
verleihe mir Schwingen, zum Wesentlichen zu gelangen.
Lehre mich schweigen über meine Krankheiten und Beschwerden.
Sie nehmen zu - und die Lust, sie zu beschreiben, wächst von Jahr
zu Jahr.
Ich wage nicht, die Gabe zu erflehen, mir Krankheitsschilderungen
anderer mit Freude anzuhören, aber lehre mich, sie geduldig zu
ertragen.
Erhalte mich so liebenswert wie möglich. Ich möchte keine Heilige
sein - mit ihnen lebt es sich so schwer -, aber ein alter Griesgram
ist das Krönungswerk des Teufels.
Lehre mich, an anderen Menschen unerwartete Talente zu
entdecken und verleihe mir, o Herr, die schöne Gabe, sie auch zu
erwähnen.
Lehre mich die wunderbare Weisheit, dass ich mich irren kann.
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